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Exkursion 2016: US-Rustbelt

"Der US-amerikanische Rustbelt im Wandel:
Stadt- und kulturgeographische Einblicke von Milwaukee bis Washington"

Studierende des Geographischen Instituts der Universität Heidelberg und des HCA reisten im September 2016 durch den sogenannten "Rostgürtel" der USA. Von Chicago über Milwaukee, Pittsburgh, Connellsville, Pennsylvania und Washington, D.C. standen der stadt- und kulturgeographische Wandel in den USA, aber auch historische und politische Themen im Mittelpunkt der Exkursion.

In loser Folge berichten die Studierenden hier über ihre Erfahrungen und Begegnungen in einem Teil der USA, der auch für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen von besonderer Bedeutung sein wird:

Prolog: Detroit

von Malte Schweizerhof


Wer den Rustbelt kennen lernen will, kommt an Detroit nicht vorbei. Diesem Gefühl folgend beschloss ich vor Beginn der Exkursion, die Stadt der Autos und des industriellen Niedergangs einmal selbst in Augenschein zu nehmen. Durch Couchsurfing landete ich auf einer als authentisch angekündigten Couch, von der ich kaum wagte, mir vorzustellen, was auf ihr schon alles passiert sein mochte.

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Highland Park, Detroit

Sie stand in einem heruntergekommenen Haus, welches im Rahmen eines Community-Projektes von sehr unterschiedlichen Menschen auf provisorische und vor allem kreativ-improvisatorische Weise als Unterkunft, Rückzugsort, Restaurant, Fundgrube und Club/Lounge genutzt wurde. Die Kraft der Rekombination sich auflösender Strukturen ergriff auch meine Sinne. Vor meinen Augen entfalteten sich ungeahnte Möglichkeiten, wie der Schrott aus scheinbar vergangenen Zeiten zu völlig neuen Gebräuchen, Stilen, Lebensweisen geformt und umgedeutet werden kann: Aquarien als vitrinenartige Küchentheken, Kleiderschränke als Küchenregale, Tischdecken als Vorhänge, alte, zerschnittene Zeitschriften als erstklassige Unterhaltung, Einkaufswagen als Transportkutschen… die Liste nähme kein Ende. Zusammengehalten werden diese gegenständlichen Umwidmungen durch andere, meist kleinteiligere Reste unserer Zivilisation, die in diesem Licht wie eine vorsintflutliche, belanglose Vergangenheit erscheint. Doch der wichtigste Kitt schien mir der soziale Zusammenhalt, der in vielen kleinen, aber dennoch offenen Gemeinschaften gehegt und nach außen getragen wird. Viele teilten mir ihr Erstaunen darüber mit, wie viel Achtsamkeit, Würde und Hilfsbereitschaft ihnen in ihren bunten Nachbarschaften entgegengebracht würde: „So wonderful!“. Eine ca. 35-Jährige Person wies mich erfreut und gleichzeitig nachdrücklich auf den Umstand hin, dass wir uns als Weiße vor 20 Jahren nicht in dieser Gegend nicht so selbstverständlich hätten aufhalten können: vor 20 Jahren war der Stadtteil Highland Park nämlich fast ausschließlich von Afro-Amerikanischen Menschen bewohnt, in ganz Detroit stellen sie bis heute ca. 80% der Bevölkerung.

Detroits Infrastruktur hat gravierende strukturelle, räumliche und sozio-ökonomische Schwächen… nein, Herausforderungen. Das ahnt jeder, der von Detroits Schicksal gehört hat. Doch der Umgang ist ein besonderer. Beispiel Mobilität: Riesige Blocks mit viel Leerstand, Einkaufsmöglichkeiten häufig weit entfernt, zumindest ohne Auto, eine riesiger 370 Quadratkilometer großer, löchriger Teppich aus urbanen Inseln gesellschaftlicher Infrastruktur. Eine der wichtigsten Infrastrukturen ist das Kulturangebot. Das wird häufig erst mithilfe von flexibel und spontan koordinierten Fahrgemeinschaften zugänglich. Einerseits stärkt dies durch Gesten der Fürsorge den sozialen Rückhalt, andererseits bringt es jedoch auch einige Unannehmlichkeiten wie Unzuverlässigkeit und Abhängigkeit mit sich. Kein Wunder, dass Fahrradbewegungen zunehmend an Fahrt gewinnen und zuweilen Karawanen von hunderten, aufgemotzten Fahrrädern durch die Straßen ziehen.

Die Schicksalsgemeinschaft „Detroit“ stellt sich mir insbesondere als resiliente, erfinderische und zugleich heterogene (Alter, Geschlecht, Ethnie, Bildungsgrad, Einkommen) Gruppe von Menschen dar, die ihre Wunden nutzt, um ein erfüllendes und vielfältiges Leben in diesem versteckten Diamanten des Rustbelts zu führen. Denn von einem gibt es aufgrund der miserablen Arbeitsmarktsituation definitiv ausreichend in Detroit: Freiwilliger Arbeit. So werden Up-Cycling-Workshops veranstaltet, heruntergekommene Häuser und heruntergewirtschaftete Grundstücke mithilfe von Improvisationstalent wieder nutzbar gemacht, unbebaute Grundstücke in urbane Gärten oder kleine Parks umgewandelt, musikalisch erstklassige Nachbarschaftsfeste ohne Sponsoring organisiert („Dalley in the Alley“) und vieles mehr. Noch sieht die Stadt mit Zurückhaltung oder gar Unterstützung zu, doch die hier entstehende kulturelle Attraktivität wird sich früher oder später auch in einem zunehmenden Interesse seitens wohlhabender Investoren niederschlagen, die durch eher neoliberale Vermarktungslogiken städtischen Bodens geleitet werden. Doch in einem scheinen sich Augenzeugenberichten des letzten Trump-Besuchs zufolge die meisten einig zu sein: Trump mit seinem Versprechen, Detroit wieder zu einer großen Stadt zu machen zählt zu denjenigen Opportunisten, die der Stadt und ihren Bewohnern pauschal und achtlos ein Schreckensdasein attestieren und über die enormen sozialen Erfolge einfach hinwegfegen. Dass in Detroit sogenannte „Food-Deserts“ zu Oasen urbanen Gemüseanbaus transformiert werden (anstatt sie nur zu „verschönern“), individuelle Schicksalsschläge von einer fürsorglichen Gemeinschaft aufgefangen werden und ein wirklich beeindruckendes (!) kulturelles Angebot besteht, wird sich dennoch über viele Wege verbreiten. Angebote zur Unterstützung kämen aus der ganzen Welt, jedoch wird angeblich weniger das Geld als die persönliche Involvierung gewünscht. Wie kann sich Detroit vor der nächsten riskanten Steilkarriere schützen?

 

Freitag, 16. September 2016 – Chicago

von Bekir Kurtulmus


Ein bewölkter, aber warmer Tag, irgendwo zwischen Oak Brook und Elmhurst – wohlhabenden Vororten westlich von Chicago. Ein italienisches Restaurant. Softdrinks, Salat und Pizza. Am Nebentisch drei ältere US-Amerikanerinnen. Sie unterhalten sich. Stichwort Deutschland – Frankfurt. Ich schaue auf. Wir kommen ins Gespräch…

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Die Exkursionsteilnehmer verschaffen sich anhand des Chicago Model
im Railway Exchange Building einen ersten Eindruck von der Stadt

​Die Damen fragen mich, ob ich Frankfurt kenne. Ich bejahe natürlich als Heidelberger, als Deutschtürke, als Geograph, welcher zudem von Frankfurt aus nach Chicago flog, um an der USA Exkursion teilzunehmen. Die Damen sind daraufhin sehr interessiert an meiner Geschichte. Sie fragen mich zuallererst, was ich über die bevorstehende amerikanische Präsidentschaftswahl denke, insbesondere was ich vom Kandidaten der Republikaner, Donald Trump, halte. Dabei betonen sie ausdrücklich, dass ich völlig frei darüber sprechen könnte. Ich teile Ihnen meine Gedanken hierzu mit, wonach die Wähler keine sehr guten Optionen bei der bevorstehenden Wahl hätten. Das sehen sie genauso.

Nachdem ich hinzufüge, dass ich überrascht bin, wie viel Zuspruch Donald Trump hat, trotz seiner zahlreichen Lügen und Skandale, habe ich die netten Vorstadtfrauen endgültig überzeugt. Sie lassen sich daraufhin ausgiebig über Trump aus. „Wenn er gewählt wird, dann wandere ich nach Kanada aus,“ heißt es unter anderem. Die Damen sind auch sehr interessiert an Istanbul und an der aktuellen politischen Lage in der Türkei. Ich bin überrascht, da man oftmals in Deutschland und Europa das Bild von Amerikanern hat, die nichts über das politische Weltgeschehen wissen. Ich kläre sie dennoch sehr gern über die problematischen Aktionen Erdogans auf und vergleiche ihn teilweise mit Trump.

Es stellt sich heraus, dass alle drei Damen inzwischen pensioniert sind, jedoch früher als Regierungsbeamte in Chicago arbeiteten. Eine erzählt von einem Bruder, der lange Zeit in Nußloch gelebt und als ziviler Beamter bei der US-Army gearbeitet habe. Sie erzählt mir, wie sehr er immer noch von Heidelberg schwärme und dass er es gar nicht habe verlassen wollen. Ich zeige ihnen noch Bilder von Heidelberg und Istanbul, meinen beiden Heimaten. Sie schwärmen…

 

Dienstag, 20. September 2016 – Milwaukee:
"Kandierte Kandidaten?"

von Wilfried Mausbach


Wem Wahlumfragen nicht schmecken, der sollte bei Linda Crum vorbeischauen. Sie betreibt C. Adam’s Bakery im Milwaukee Public Market, einer jener Markthallen, die es unabhängigen Kleinhändlern ermöglichen, ihre Spezialitäten in einem europäischen Ambiente feilzubieten und die sich seit Jahren in Amerika wachsender Beliebtheit erfreuen. Auch wenn es den Milwaukee Public Market erst seit Oktober 2005 gibt, so steht er doch am ältesten Warenumschlagplatz der Stadt, im historischen 3. Bezirk (Historic Third Ward). Dort tummeln sich heute Kunstgalerien, Modeboutiquen und gehobene Restaurants.

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Im Keksladen von Linda Crum hat die US Präsidentenwahl bereits begonnen...

Angesichts dieser Szene mag der Stand des Wählergeschmacks in C. Adam’s Bakery erstaunen – selbst wenn die Art der Erhebung vielleicht nicht ganz auf der Höhe der gängigen Methodiken empirischer Sozialforschung liegt. Unter dem Motto „Nie war Demokratie süßer“ ködert die Kuchen- und Knabberstube ihre Kunden nämlich damit, zum Ausweis ihrer Unterstützung der demokratischen Kandidatin bzw. des republikanischen Kandidaten einen Keks in Form des Wappentiers der jeweiligen Partei zu erwerben. Bisher sind 290 Esel (für die Demokratische Partei) und 181 Elefanten (für die Republikanische Partei) über die Theke gegangen. Hillary Clinton distanziert demnach Donald Trump mit 62:38 Prozent deutlich, aber nicht so dramatisch wie es Linda Crums Klientel und das progressive Klima in der größten Stadt des Bundesstaats Wisconsin erwarten lassen könnten. Oder wollten einige Anhänger Hillarys lediglich demonstrieren, dass man The Donald zum Frühstück verspeisen werde? Es bleibt nervenzerreißend...

 

21.–25. September 2016: "Begegnungen – Bus, Bahn, Boot"

Teil I – Im Bus

von Karina Krampf


Wir sind mittlerweile über eine Woche im Land der unbegrenzten Möglichkeiten unterwegs, doch zeigten uns zufällige Begegnungen in öffentlichen Verkehrsmitteln, dass wir uns ebenfalls in einem Land der unbegrenzten Gegensätze und Hoffnungen befinden.

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Standort der Non-Profit Organisation "Growing Power" im nödlichen Teil Milwaukees

Angefangen hat es in einem Bus in Milwaukee, wir waren auf dem Weg in den nördlichen Teil der Stadt. Die Bevölkerung ist hier zu über 90% afro-amerikanisch und lebt zu einem großen Teil in Armut. Hier befindet sich zudem ein Standort von Growing Power, einer Non-Profit Organisation, die sich für nachhaltigen Anbau von Lebensmitteln in Armenvierteln stark macht. Wir waren dort nur für einen Vortrag, andere verbringen jedoch in diesen heruntergekommenen Vierteln ihr ganzes Leben. Die Menschen der weißen Mittelschicht kommen nur selten in diese Stadtteile. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass unsere Gruppe europäischer Studierender im Bus auffiel. Dort wurden wir das erste Mal mit der Stimmung, die diese Segregation mit sich bringt, konfrontiert. Man sprach uns an, erklärte uns, dass „sich hier keine Weißen hin verirren würden“ und erst Recht nicht den Bus verlassen.

Wir kennen diese starke Abgrenzung aus Deutschland nicht oder nehmen sie zumindest weniger bewusst wahr. In diesem Moment schien es uns auch nicht vorstellbar, welche Hoffnungslosigkeit und auch Wut sie mit sich bringt. Dabei stellt sich doch die Frage: Ist es nicht nachvollziehbar, wenn uns Unverständnis entgegengebracht wird, sobald wir den Raum betreten, der ihnen durch die Gesellschaft zugewiesen wird? Denn ersterer wird ihnen nicht selten durch die Mächtigen von Stadt und Staat streitig gemacht, beispielsweise, wenn ein Freeway mitten durch das Wohnviertel gelegt wird.

Eine Begegnung anderer Art hatten wir im Bus in Pittsburgh. Hier hörte ein älterer Herr aufmerksam zu, als wir uns unterhielten. Schließlich fragte er uns, ob wir Deutsche seien. Er erkannte die Sprache, denn seine Frau ist aus Deutschland, er selbst zeigte uns seine Tätowierung der britischen Flagge. Er erzählte, dass er einst, als Deutschland England im Zweiten Weltkrieg bombardierte, mit seinen Eltern auf einem Schiff, das er selbst als größer als die Titanic beschrieb, in die USA kam. Man hätte erwarten können, dass er uns also ein gewisses Misstrauen, vielleicht auch Wut, entgegenbrächte, aber eigentlich wollte er nur wissen, wie wir den Schwarzwald fänden, ob wir es dort nicht auch so wunderschön fänden. Er selbst liebe den Schwarzwald. Auf die Frage, wann er das letzte Mal dort gewesen sei, bekamen wir eine Antwort, die man bei seiner Begeisterung kaum erwartet hätte: Nie. Er sei nur Klempner. Er werde nie das Geld haben dorthin zu reisen. Aber er träumt davon. Auch seine Frau kam während des Zweiten Weltkriegs als Verfolgte in die USA, sie hat Deutschland nie wieder besucht.

Er hatte all sein Werkzeug dabei, konnte es beim Aussteigen selbst jedoch kaum noch heben. Er ist 76 Jahre alt, geboren im Jahr 1940, und hat seit seiner Ankunft das Land nie verlassen. Dabei schien er zufrieden, auch wenn er nicht der große Gewinner des Systems ist. Er wirkte trotz seines Alters noch voller Träume und Hoffnungen und vor allem ohne Vorurteile.

 

Teil II – In der Bahn

von Robert Pelipez

Nach knapp einer Woche Exkursionsaufenthalt in den USA fuhren wir nach unserem Aufenthalt in Milwaukee per Amtrak-Zug nach Pittsburgh. In Chicago gesellte sich ein älterer chinesischer Herr zu uns, mit dem ich bald ins Gespräch kam. Im Alter von 27 Jahren sei er nach abgeschlossenem Ingenieursstudium von China in die Staaten emigriert, wo er seit nunmehr knapp dreißig Jahren lebe. Interessiert erkundigte er sich danach, was uns in die Staaten brächte, und als er unseren universitären Hintergrund erfuhr, fragte er nach den späteren Gehaltsaussichten für unsere verschiedenen Berufe.

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Frachtzug vor der Skyline von Pittsburgh

Sobald er erfuhr, dass ich als angehender Lehrer in Baden-Württemberg beispielsweise mit einem Brutto-Einstiegsgehalt von rund 40.000 Euro rechnen könne, war er mehr als überrascht. Um zur gestandenen Mittelschicht in den Staaten zu zählen, so seine Aussage, müsse man mindestens 150.000 US$ brutto verdienen, um alle Lebenshaltungskosten sowie steuerlichen Abgaben abdecken zu können. Er als Ingenieur verdiene knapp 200.000 US$ pro Jahr, mit denen er alle Ausgaben begleichen, seinen Sohn unterstützen sowie seine Steuern abzahlen könne. Von letzteren zeigte er mir seine Abrechnung vom Vorjahr, die sich auf rund 7.800 US$ belief. Während einzelne steuerliche Abgaben für Wasser, Strom, Grundstück sowie diverse Beträge für seinen Landkreis nahe Chicago bei geringen zwei- bis dreistelligen Beträgen lagen, machten die Schulsteuern mit knapp 3.000 US$ nahezu die Hälfte seiner Abgaben aus – und das, obwohl sein Sohn mittlerweile 31 Jahre alt ist! Auch ohne schulpflichtige Kinder müssen alle US-Bürger diesen enormen steuerlichen Beitrag stemmen, der gerade bei geringerem Einkommen einen markanten Einschnitt darstellt.

Angesichts amerikanischer College-Gebühren von 25.000 US$ pro Jahr oder mehr müssen die meisten jungen Menschen, die eine höhere Bildung anstreben, sich entweder auf den Rückhalt ihrer Eltern verlassen, oder – was eher üblich ist – mit hohen Kreditschulden in ihr Berufsleben starten. Privathaushalten, die derartige Aus- und Abgaben nicht tragen können, droht ebenfalls hohe Verschuldung. Es mag Erfolgsgeschichten wie die des chinesischen Herren geben, die sich mit Fleiß und Mühe hochgearbeitet haben und trotz Emigration in ein fremdes Land ein Leben der oberen Mittelschicht genießen können. Für den Großteil der Menschen geht der „American Dream“ jedoch mit beträchtlichen persönlichen Bürden einher.

 

Teil III – Auf dem Boot

von Robert Pelipez

Während unserer Stadtrundfahrt auf dem Boot in Pittsburgh kam ich mit einem jungen, hispanisch aussehenden Mann ins Gespräch. Wieder war es unsere deutsche Sprache, die andere auf unsere Gruppe aufmerksam werden ließ. Nachdem ich ihm von unserer Exkursion durch die amerikanischen Rustbelt-Städte erzählte, kamen wir auf seinen Hintergrund zu sprechen. Seine hervorragenden Englischkenntnisse kamen daher, dass er den Großteil seines Lebens in Kalifornien verbracht hatte. Momentan lebe er in Los Angeles, wo er auch geboren sei, während seine Elternteile aus Spanien sowie El Salvador stammten. In letzterem Land verbrachte er einen Teil seiner Jugend, wo er auch zur Schule ging – und unter anderem von der zunehmenden Gewalt organisierter Gruppen zu berichten wusste.

In Los Angeles jedoch habe er persönlich nur wenig Bandenkriminalität mitbekommen. Natürlich kann man nicht von der Hand weisen, dass unter den Mara Salvatrucha gerade in Kalifornien viele Rivalitäten vorherrschen. Im Großen und Ganzen jedoch, so seine Worte, kämen die Menschen gerade in der Stadt der Engel relativ gut miteinander zurecht. Auch mein persönlicher Eindruck deckt sich damit, denn ich reiste bereits gut einen Monat vor Exkursionsbeginn durch die USA, unter anderem auch durch Los Angeles. Trotz der sehr heterogenen Demographie habe ich nie das Gefühl gehabt, dass hier Spannungen zwischen den Ethnien bestünden – die Menschen kommunizierten und interagierten miteinander.

In Pittsburgh jedoch erschien ihm die Lage recht paradox. Einerseits seien die Menschen – gerade auch Weiße – nett und zuvorkommend zu ihm, halfen ihm aus, wenn er sich in der fremden Stadt, die er ebenfalls für ein paar Tage besuchte, offenkundig nicht zurechtfand. Gleichzeitig gebe es aber ein Gefühl latenter Spannungen – „irgendwie verstellen sich die Menschen in einer Weise, wie sie nicht zur sonst üblichen Smalltalk-Kultur der USA passt“. So begegneten sie ihm im ersten Moment freundlich, beim Thema Politik wetterten sie jedoch gegen die Ausländer, die ihr Land entfremdeten und den Amerikanern die Jobs wegnähmen. Dies sagten sie zu ihm ohne Bewusstsein dafür, dass vor ihnen genau solch ein junger Mann mit Migrationshintergrund stand, der ihre Vorstellungen eigentlich widerlegen sollte. Wir rätselten beide darüber, ob dieser Bruch bewusst hervorgerufen werde oder lediglich ein Ausdruck polarisierter Verblendung sei.

Was auch immer die Gründe hierfür waren, eines ist klar: Die Diskrepanzen zwischen Menschen verschiedener Hautfarben werden immer deutlicher. Auch der junge Mann war der Meinung, dass sein Land – er sah sich trotz hispanischer Kultureinflüsse eindeutig als gestandener Amerikaner – sich hinsichtlich der Rassenunruhen in einer Abwärtsspirale befinde. Die landesweiten Ausschreitungen, wie sie sich in Ferguson, Milwaukee, Chicago oder zuletzt in Charlotte abspielen, sind ein Ausdruck der Segregation und des fortwährenden Rassismus der amerikanischen Gesellschaft. Manchen mag dies nicht unmittelbar bewusst sein wie beispielsweise denjenigen, von denen der junge Mann berichtete. Doch der Bruch wird in gerade in der aufgeheizten Stimmung des amerikanischen Wahlkampfes immer deutlicher. Wie weit sich dieser öffnen wird – oder ob und vor allem wie er künftig verringert werden kann – wird sich wohl vor allem nach den Wahlergebnissen zeigen.

 

Sonntag, 25. September 2016 – Pittsburgh

von Julia Merk


6:45 Uhr in Pittsburgh, Pennsylvania und mein Wecker klingelt. Es ist der erste Tag unserer Exkursion über Chicago, Milwaukee, nun Pittsburgh, nach Washington, D.C., an dem wir unser sportliches Geschick unter Beweis stellen können. Noch etwas verschlafen brechen wir zum Great Race auf, bei der wir um 8 beziehungsweise 9:30 Uhr an einem 5 oder 10km Lauf teilnehmen werden.

Vor Ort lauschen wir der Nationalhymne, welche von einer Frau gesungen wird. Die zuvor lachende und laute Menschenmenge wird plötzlich ganz still. Alle lauschen gespannt, ergriffen und mit einer Ernsthaftigkeit, die mich überrascht hat. Nach ein paar kurzen, einführenden Worten fällt der Startschuss und der Lauf beginnt. Schnell wird man angesteckt vom Ehrgeiz und der Freude der anderen Teilnehmer und Zuschauer, Musiker feuern uns zusätzlich an. Es entsteht eine tolle Atmosphäre und ich fühle mich bald nicht mehr wie eine Fremde, die eine Stadt erkundet, sondern als Teil eines Teams. Wir sind nun ca. bei der Hälfte unserer Exkursion angekommen, und für mich ist der heutige Tag, im Besonderen das Great Race, schon jetzt mein persönliches Highlight der Tour. Die ungezwungene, freundliche und kameradschaftliche Stimmung hat mich und viele andere aus unserer Gruppe begeistert.

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"Team Heidelberg" beim Great Race in Pittsburgh | Literatur von und über Donald Trump bei Bradley's Books

Am Nachmittag geht es nach einer Verschnaufpause dann weiter zu einer Bootstour zur Erkundung Pittsburghs. Zuvor zieht es mich in einen kleinen Buchladen - Bradley’s Books. Wir befinden uns in einer spannenden Zeit in Amerika, was mir hier erneut vor Augen geführt wird. Viele der ausgestellten Bücher beziehen sich auf die bevorstehende Präsidentschaftswahl in den USA. Vor allem zu Donald Trump findet sich viel Literatur, insbesonders kritische, welche ich mir genauer betrachte und bald von einer Mitarbeiterin des Ladens angesprochen werde. Wir kommen ins Gespräch und ich frage sie nach ihrer Meinung zu den Wahlen. „Am liebsten hätte ich das alles schon hinter mir. So oder so gibt es keine gute Lösung.“ Eine Meinung, die wir hier schon von mehreren Menschen gehört haben. Sie betont weiterhin, dass sie Hilary Clinton für das geringere Übel halte, jedoch auch nicht vollkommen auf ihrer Seite stehe. Generell sei aber alles besser als „Crazy Donald“. Sie hofft auf eine hohe Wahlbeteiligung, fürchtet sich aber auch davor, dass viele Menschen Trump wählen könnten, weil sie sich durch ihn Veränderung erhoffen. Wie sich alles ergeben wird, zeigt sich im November. Jetzt sind wir erstmal gespannt auf das erste TV Duell der beiden, das am Montag Abend stattfinden wird, und setzen unsere Reise nach Connellsville fort.

 

Dienstag, 27. September 2016 – Connellsville, Pennsylvania
"Small Town America vs. Global Cities"

von Ulrike Gerhard


Nachdem wir einige Städte des amerikanischen Rustbelts bereist, beobachtet und in unseren Waden gespürt haben (s. Reisebericht Julia Merk), sind wir nun im ländlichen, kleinstädtischen Amerika angekommen. Connellsville zählt laut amerikanischem Zensus 2010 rund 7.600 Einwohner und liegt in Pennsylvania, etwa 1,5 Autostunden südöstlich von Pittsburgh. Wir sind hier bereits in den Appalachen und blicken auf ein traumhaftes Bergpanorama, in dem der Indian Summer sich ankündigt. Alle können durchatmen und frische Luft tanken nach der „Stahlstadt“ Pittsburgh, der „Bierheimat“ Milwaukee und der geschäftigen Global City Chicago. Ein Hostel gibt es hier nicht, auch keine größeren Hotels, deshalb hat die Gemeinde uns eine ihrer vielen Kirchen als gemütliche Schlafstätte gastfreundlich hergerichtet. Zum Frühstück gibt es heimelig gebackene Brownies und Cookies sowie Müsli und frisches Obst. Die Welt scheint hier in Ordnung, ein ländliches Amerika, wie es viele Europäer sich vielleicht noch vorstellen, in dem es viele kleine, freistehende Holzhäuser mit nun bereits für Halloweeen geschmückten Vorgärten gibt, die Straßen zieren Pick-up Trucks und ein paar Fast-Food-Läden oder Family Restaurants. Aber gilt dieses Bild noch? Ist dies wirklich „typisch“ Amerika? Oder trügt der Schein?

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Pittsburgh Street und die Christian Church of Connellsville (Disciples of Christ) in Connellsville, Pennsylvania

Natürlich gibt es darauf nicht nur eine Antwort. Auf jeden Fall schrumpft dieses Amerika, die Bevölkerung zieht hier seit Jahrzehnten weg, von ehemals gut 15.000 Einwohnern in Connellsville in den 1950er Jahren zählt es heute noch etwas mehr als die Hälfte. Denn die Arbeitsplätze sind hier rar gesät, waren es früher die Eisenbahn und Kohlelagerstätten, die Jobs brachten, dann die boomende Stahlindustrie in Pittsburgh, werden dort heute kaum noch Arbeitskräfte benötigt. Die Bevölkerung ist zu über 90 % weiß, aber nicht sehr wohlhabend, das durchschnittliche Haushaltseinkommen liegt bei $21.000 - im Unterschied zu Chicago mit $47.600 oder $61.500 (!) in Washington, DC. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung in Connellsville lebt unterhalb der Armutsgrenze. Der School District Fayette County, in dem die Kleinstadt liegt, rangiert auf Platz 401 von insgesamt 493 gerankten Schulbezirken in Pennsylvania. Es ist „Trump Country“, die Bevölkerung wird bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen wohl mehrheitlich den Republikaner Donald Trump wählen, da er den geschundenen Regionen Prosperität und Aufschwung verspricht, die sie aufgrund der vielen weltweit geschlossenen Handelsabkommen deutlich hinter ihren Möglichkeiten hat zurückfallen lassen. Einen genauen Plan hat er dafür allerdings nicht, wie wir bei der ersten Presidential Debate, die wir in Bud Murphy’s Pizza Place verfolgt haben, feststellen konnten.

Small-town Amerika steht somit in einem deutlichen Kontrast zu den großen Städten. Diese stehen zwar auch vor großen Problemen und Herausforderungen, der Strukturwandel hat hier viele Spuren hinterlassen, ganze Stadtteile verfallen, die sozio-ökonomischen Ungleichheiten nehmen zu und auch die Kriminalitätsraten, seit ihrem Höhepunkt Anfang der 1990er Jahren deutlich zurückgegangen, haben im letzten Jahr wieder eine leicht ansteigende Tendenz. Dennoch bewegt sich in den Großstädten etwas. Sie haben ihre Industrievergangenheit abgelegt und werden zu dampfenden Hotspots der (globalen) Dienstleistungsgesellschaft. Jobs im Hightech-Sektor nehmen in Pittsburgh und Milwaukee zu, höhere Bildung ist angesagt, Universitäten werden zu den Wachstumsmotoren der urbanen Ökonomie. Deswegen wandelt sich auch das bauliche Erscheinungsbild: Nicht nur zieren immer spektakulärere Skylines die Downtowns, auch Cafés und kleine Geschäfte (insb. Bioläden) sprießen aus dem Boden und Farmers Markets blühen. Hinzu kommen neue Fahrradwege sowie Bus- oder gar Straßenbahnverbindungen, die eine neue Urbanität vermitteln, wie wir sie sonst nur den europäischen Städten zugesprochen haben. Es herrschte somit Aufbruchsstimmung in den von uns besuchten Städten, die sich im ländlichen Amerika – abgesehen von einem beeindruckenden Bürgerengagement, das zum größten Teil auf den Einsatz von Freiwilligenarbeit zurückgeht – nur schwer verbreiten lässt. Amerika bleibt somit ein Land der Gegensätze, die sich sowohl innerhalb der Städte sehr deutlich manifestieren, aber eben auch zwischen Small Town und Global City markant hervortreten. Auch das konnten wir auf unserer Exkursion sehr deutlich wahrnehmen.

 

Donnerstag, 29. September 2016 – Connellsville, Pennsylvania
"German university students tour Connellsville"

Die Lokalzeitung von Connellsville, The Daily Courier, berichtet ausführlich über den Besuch der Heidelberger Studierenden in der Stadt:

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Samstag, 1. Oktober 2016 – Washington, D.C.
"Ein philosophischer Blick vom Gehwegrand"

von Malte Schweizerhof


Ich stehe vor einem Café und überlege, wohin ich nun gehen möchte. Die Exkursion ist seit einer guten Stunde offiziell vorüber. Eine auf dem Boden sitzende Person bekommt einen Pizza-Karton, nimmt ihn an. Er wird geöffnet und ich sehe eine frische, ganze Pizza. Spontan trete ich näher und frage „Wow, passiert das öfter?“. Ja, die Menschen seien teilweise sehr fürsorglich. Ich beschließe, eine Kohlrabi als Ergänzung anzubieten woraufhin wir sie zusammen verspeisen und er von mir erfährt, was das überhaupt für ein Gemüse ist und wie es wächst. Ich werde einen Teil meines Abends mit ihm verbringen und ein sehr informatives, tiefgehendes und ermutigendes Gespräch führen. Über das Treiben in Georgetown (dem um uns herum befindlichen Studentenviertel im Townhouse-Style), die Topographie Pittsburghs, einen fehlenden Austausch innerhalb der US-Amerikanischen Bevölkerung, Vertrauen, Begegnung im öffentlichen Raum, Fahrradverkehr und vieles mehr.

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In diesem Zusammenhang betonte er, Rainie, wie wichtig es für Obdachlose ist, dass sich andere Menschen unabhängig von ihrer Spendenbereitschaft für sie interessieren, sie wahrnehmen und sich mit ihnen unterhalten. Meine Idee, eine öffentlich zugängliche Küche zu etablieren fand er besonders sinnvoll, denn das würde es Obdachlosen ermöglichen, Spenden in Form von nicht zubereiteten Lebensmitteln selbst zu verarbeiten – und dabei das Vertrauen potenzieller Unterstützer zu erlangen und auf konstruktive Weise mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Die Idee des konstruktiven Kontakts und Austauschs scheint für ihn ein Hoffnungsträger zu sein, der ein Gegengewicht zur seiner Erkenntnis darstellt, dass Gesetze in erster Linie von einer sehr homogenen und kaum repräsentativen Menschengruppe gestaltet werden. Wir sprachen darüber, dass es sein möglich sein müsse, Gedanken in eine direkte Anwendung in menschlichem Maßstab zu überführen, um dann offen und flexibel unterschiedliche Standpunkte zu vertreten.

Ach ja, er war noch nie im Ausland, ist auf Facebook aktiv und scheint trotz seiner schwierigen finanziellen Situation ein sinnerfülltes Leben in einer fürsorglichen Umgebung zu führen. Wie sehr dieser Umstand aufgrund der finanziell relativ gut gestellten und weltoffenen Passanten gegeben und daher auf Orte wie diese angewiesen ist taucht hier als spannende Frage auf. Bezüglich des in den USA tief verankerten Konkurrenzdenkens sagt er, dass er für sich nicht mehr von der Menschheit als einer „Rasse“ denken möchte als vielmehr von einem Organismus, der als Metapher in seinen Augen die Bedeutung der Anpassungs- und Annäherungsfähigkeit betont. Es ist ein Gespräch und eine Verbindung, die mich auf meinem Weg durch das Dickicht von Stadtentwicklung und -vernetzung definitiv begleiten wird. Nach etwa zwei verflogenen Stunden fiel der Abschied fast schon schwer. Ich überreichte ihm einen Aufkleber mit der Aufschrift „Kunst“, woraufhin er mich fragte, ob ich ein Musikinstrument spiele und mir ein „Plektrum“ zum Gitarre-Spielen schenkte. Im Nachhinein fragte ich mich, ob wir Glück hatten, dass unsere Anwesenheit an diesem Ort so lange geduldet wurde, denn das schöne, lebendige Viertel ist ein „Business Improvement District“. Schilder weisen unmissverständlich darauf hin, dass dieser Bereich privat ist und videoüberwacht wird. Wie lassen sich Orte des Konsums mit Orten der Begegnung verbinden, um soziale Ungleichheiten aufzufangen?

 

Samstag, 1. Oktober 2016 – Washington, D.C.
"Baseball – Mehr als nur ein Spiel"

von Kai Morgenstern


Als sich heute die Möglichkeit ergab, nach unserem Tagesprogramm den Abend auf eine typisch amerikanische Weise zu verbringen, nutzte ich diese Gelegenheit und ging mit Robert und zwei seiner amerikanischen Freundinnen in den „Nationals Park“. Hier spielt das Baseballteam der Washington Nationals, heute gegen die Marlins aus Miami. Die Sportart war für mich bis jetzt ein Buch mit sieben Siegeln – und ist es auch immer noch, obwohl sich unsere amerikanischen Begleiterinnen jede erdenkliche Mühe gegeben haben, dies zu ändern. Zum Sportlichen nur so viel: Washington hat gewonnen und einem ihrer Spieler gelang ein Home Run.

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Baseballspiel im National Park in Washington, D.C.

Ich blicke lieber auf das Geschehen außerhalb des Platzes zurück, welches für mich auch der Hauptgrund war, das Spiel zu besuchen. Das scheint allerdings auch dem Großteil der anderen Zuschauer so zu gehen, was wohl auf die lange Spieldauer zurückzuführen ist. Unser Match zog sich über 195 Minuten! Bevor das Spiel losging, musste (natürlich) die Nationalhymne gesungen werden. Doch noch sind bei Weitem noch nicht alle auf ihren Plätzen. Der Baseballfan weiß: Man verpasst nichts, wenn man eine halbe Stunde später ins Station kommt. Und da sich das Spiel über mehrere Stunden zieht, kann man die Zeit anderweitig nutzen und sich zum Beispiel mit Bier und Hot Dogs – dem typical meal für solch ein Spiel – eindecken. Auf den Rängen herrscht folglich ein permanentes Kommen und Gehen. Es gibt auch keine größeren Unterbrechungen wie etwa die Halbzeitpause während eines Fußballspiels. Und so verbrachten auch wir zwei Innings (so nennt man einen Spielabschnitt) damit, den riesigen Foodcourt zu erkunden, den Fanshop zu besuchen und Fotos zu machen (und haben dabei tatsächlich keine spielentscheidende Szene verpasst).

Bei den Höhepunkten, die sich während den Spielpausen abspielten, waren wir dann wieder auf unseren Plätzen. Und was sich in den Pausen abspielte, war auch eindrucksvoller als das eigentliche Spiel. Nach den ersten beiden Innings wurde den anwesenden Veteranen gedankt. Minutenlange Standing Ovations. Das Highlight folgte im vierten Inning. Das sogennante „Presidents Race“. Hier rennen die ehemaligen Präsidenten George Washington, Abraham Lincoln, Thomas Jefferson, Theodore Roosevelt, William Howard Taft und Herbert Hoover um die Wette. Natürlich sind es nicht die Präsidenten höchstpersönlich, sondern maskottchenähnliche Figuren, deren Gesichter karikaturhaft dargestellt sind. Sie tragen Rückennummern, die sich danach richten, der wievielte Präsident die jeweilige Person war. So trägt beispielsweise Lincoln als sechzehnter Präsident die Nummer 16. Nach einer halben Minute ist das Spektakel schon wieder vorbei. Das Stadion jubelt. Die Szene ist unglaublich lustig, aber auch sehr kitschig. Trotzdem war dies für mich der Höhepunkt des Abends. Mein Fazit: Der Ausflug hat sich absolut gelohnt, wir wurden richtig gut unterhalten. Das eigentliche Baseballmatch spielte bei dem ganzen Spektakel allerdings nur eine untergeordnete Rolle.

 

Epilog – Chicago:
"Eine geteilte Stadt und eine Biosupermarktkette, die diese Trennung zu überwinden versucht"

von Christiane Vinck


Unsere Exkursion startete Mitte September in der windy city Chicago. Schon hier hatten wir die Gelegenheit, nicht nur die bei Touristen beliebte North Side zu erkunden, sondern einen Eindruck von der „anderen Seite“, der South Side zu bekommen. Ein spannendes stadtgeographisches Phänomen in Chicago ist die faktische Trennung der Stadt in eine North Side und eine South Side, und das nicht nur beim Baseball, bei dem die South Side traditionell den White Sox zujubelt und die North Side den Chicago Cubs. Eines der hauptsächlichen Merkmale dieser Trennung wird sofort ersichtlich, wenn man sich in beiden Teilen aufhält. Während die North Side von White Americans und Touristen dominiert wird, leben in der South Side fast ausschließlich African Americans.

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Während unseres Aufenthalts hatten wir die Ehre, von David Wilson, Professor für Geographie an der University of Illinois Urbana-Champaign, durch die South Side geführt zu werden. Wir lernten schnell, dass die South Side mit ihren unterschiedlichen Stadtteilen sehr vielschichtig ist. Während Hyde Park mit der University of Chicago ein ethnisch durchmischter Stadtteil ist (Präsident Obama besitzt dort ein – wie wir uns überzeugen konnten freilich weiträumig durch Betonklötze und Secret Service Limousinen abgeschirmtes – Haus), sind viele Stadtteile in der South Side von Armut, Leerstand und unbebauten Grundstücken geprägt. Zugleich war der Stadtteil Bronzeville mit Jazz und Blues Künstlern wie Nat King Cole vor allem zwischen 1920 und 1950 das Zentrum afroamerikanischer Kultur in Chicago und weit darüber hinaus. Auch heute finden sich hier noch einige Jazz Clubs und Blues Bars.

Ein Problem, das seit vielen Jahren fast alle Bewohner der South Side eint, ist der schlechte Zugang zu Services wie Supermärkten oder anderen Geschäften. Während Bewohner der North Side meistens zwischen mehreren Optionen wählen können, befinden sich Bewohner der South Side häufig in sogenannten „food deserts“. So werden Bereiche bezeichnet, die keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu frischen Lebensmitteln haben.

Als Teil meiner Masterarbeit wollte ich mehr über dieses Thema erfahren und bin daher im Anschluss an die Exkursion noch einmal für zwei Wochen nach Chicago zurückgekehrt.

Ich habe mir vor allem vorgenommen, den Stadtteil Englewood in der South Side Chicagos und die dortigen Entwicklungen wie die Eröffnung des Biosupermarktes Whole Foods besser kennenzulernen. In Englewood liegt der Anteil der African Americans bei 97%. Wie viele Stadtteile in der South Side Chicagos hat auch Englewood mit erheblichen sozioökonomisches Schwierigkeiten zu kämpfen. Englewood hat in den letzten 50 Jahren fast die Hälfte seiner Bevölkerung verloren. Dadurch stehen viele Gebäude leer. Zudem beträgt das Pro-Kopf-Einkommen mit 12.000 US$ weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens in Chicago insgesamt, was zu einer Armutsrate von 42% in Englewood führt. Gleichzeitig liegt die Arbeitslosenquote bei mehr als 20% und Englewood gilt vor allem in den Medien als einer der am stärksten von Kriminalität betroffenen Stadtteile Chicagos. Auch die Chicago Tribune listet Englewood in ihrem offiziellen Kriminalitätsreport basierend auf der Anzahl der Gewaltdelikte wie Körperverletzungen, Übergriffen und Morden in den letzten Jahren immer wieder innerhalb der oberen 10 Positionen der insgesamt 77 Nachbarschaften in Chicago.

Aufgrund dieser Zahlen und der häufig negativen Zeitungsberichte sitze ich vor meinem ersten Besuch in dieser Nachbarschaft mit einem mulmigen Gefühl in der „L“, der Straßenbahn, die mich von der North Side in die South Side nach Englewood bringt. Dieses Gefühl verfliegt zum Glück sehr schnell, als ich zum ersten Mal den Ort in Englewood betrete, der der Auslöser für mein Interesse an diesem Stadtteil war: Der brandneue, erst Ende September eröffnete Whole Foods Supermarkt, der sich keine 100 Meter von der Straßenbahnstation befindet. Am ehesten ließe sich Whole Foods vielleicht mit einer Mischung aus den hiesigen Biosupermärkten und großen konventionellen Supermärkten beschreiben. Whole Foods bezeichnet sich selber als „America’s Healthiest Grocery Store“ und wird in der öffentlichen Wahrnehmung wegen der im Vergleich zu anderen Supermärkten hohen Preise häufig als „Whole Paycheck“ bezeichnet.

Für viele Menschen, mit denen ich mich während meiner Zeit in Englewood unterhalten habe, war die Eröffnung von Whole Foods etwas Besonderes. Sie schildern mir, dass sie nun endlich in ihrem Stadtteil Zugang zu frischen Lebensmitteln und vor allem Zugang zu mehr Auswahl wie zum Beispiel Bioprodukten haben. Endlich müssten sie nicht mehr weit fahren, um zu einem voll ausgestatteten Supermarkt zu gelangen, der häufig 4 km oder mehr entfernt ist. Wie in viele Gegenden in der South Side Chicagos gibt es in Englewood vor allem eine Vielzahl an kleinen Eckläden (corner stores), die kaum frische Lebensmittel verkaufen, sondern abgepacktes und häufig sehr ungesundes Essen mit viel Zucker und Fett. In direkter Nachbarschaft zu Whole Foods gibt es zwar einen Aldi, aber im Gegensatz zu dem in Deutschland recht positiven Image sehen viele Amerikaner Aldi nicht als ihren favorisierten Supermarkt, außer wenn es um den Faktor Preis geht. Das hängt zum Beispiel mit den Konzepten wie einem eingeschränkten Warenangebot, Einkaufswagen nur gegen Pfand und dem Fehlen eines kostenlosen Einpackservice zusammen, woran wir in Deutschland gewöhnt sind, die aber in den USA teilweise auf Unverständnis stoßen. Wenn ich durch den Whole Foods gehe und die Kunden mir ihre Begeisterung über den guten Service dort mitteilen, habe ich das Gefühl, dass Einkaufen in den USA vielmehr als in Deutschland ein Erlebnis zu sein hat.

So berichten mir viele der Kunden - hauptsächlich Afroamerikaner-, dass ihnen Whole Foods nicht neu ist. Wegen ihres Bewusstseins für Biolebensmittel und vor allem für frische Lebensmittel seien früher viele bis in die North Side gefahren, um zum nächstgelegenen Whole Foods zu gelangen. Das bedeutete Anfahrtswege von mindestens einer halben Stunde bei wenig Verkehr. Erst im Juni dieses Jahres eröffnete Whole Foods seinen ersten Supermarkt in der South Side Chicagos in Hyde Park. Und während meiner Zeit in Chicago erlebte ich auch die Eröffnung eines weiteren großen oder eher gesagt riesigen Supermarktes in der South Side in Bronzeville mit. Obwohl Bronzeville mit seiner Nähe zur North Side und einem für die South Side verhältnismäßig hohen Einkommen als einer der besseren Stadtteile der South Side gilt, gab es auch hier bis zur Eröffnung des Marianos keinen voll ausgestatteten Supermarkt.

In Chicago gibt es also einen deutlichen Unterschied zwischen der mehrheitlich weißen North Side und der mehrheitlich schwarzen South Side in Bezug auf den Zugang zu frischen Lebensmitteln und einer großen Auswahl an Lebensmitteln.

 

HCA-BAS: E-Mail
Letzte Änderung: 27.10.2016
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